VERHÄLTNISSE BESTIMMEN DAS VERHALTEN
Diese organisationssoziologische Sichtweise hat in den letzten Jahren sehr an Aufmerksamkeit gewonnen und dazu beigetragen, Strukturen, Prozesse und Kommunikationssysteme so zu gestalten, dass sie Vernetzung ermöglichen und wirksame Zusammenarbeit fördern. Und das ist wesentliche Grundlage dafür, in einer immer dynamischeren und komplexeren Welt erfolgreich zu sein. Wenn wir Transformationsgefährten Veränderungen begleiten, ist dieser Blick auf dysfunktionale Rahmenbedingungen, relevante Entscheidungsprämissen1 und auf Klarheit der Zielorientierung unser primärer Fokus.
Aktuell können wir bei Bayer eindrucksvoll beobachten, wie Bill Anderson den Hebel am System ansetzt2:
- Alle Prozesse werden konsequent auf die Kundenbedürfnisse zugeschnitten, ohne Rücksicht auf bestehende Hierarchien.
- Eine klare Vision und Mission gibt Orientierung und setzt den Rahmen für Entscheidungen.
- Entsprechend kann der weitaus größte Teil der Entscheidungen von den Teams selbst getroffen werden, die nah am Kunden sind.
- Führungskräfte sorgen für die Architektur der Zusammenarbeit in Teams und unterstützen bei der Entscheidungsfindung.
Echte Transformation ist Arbeit mit Menschen am System. Doch hier kommt dann eben auch der Mensch ins Spiel. Und das nicht nur als Rollenträger und relevante Umwelt. Sondern mit all seinen Erfahrungen, Prägungen und seiner daraus geformten Haltung3. Denn die entscheidet, wie Menschen ihre Umwelt wahrnehmen, wie sie mit anderen interagieren und wie sie auf Veränderungen reagieren. Und diese Haltung entwickelt sich im Verlauf unseres Lebens mit neuen Herausforderungen, Erlebnissen und Erfahrungen.
HALTUNG BESTIMMT DAS VERHALTEN
- Meine Haltung entscheidet darüber, wie ich selber mit Veränderungen umgehe. Zum Beispiel ob ich mich als Opfer der Veränderung fühle und die Schuldigen anklage oder ob ich mit anderen aktiv in die Gestaltung der Zukunft gehe und unterschiedliche Perspektiven integriere.
- Meine Haltung bestimmt, wie ich mit anderen interagiere. Wie ich mich in einer Führungsrolle verhalte, wie ich mich im Team bewege oder wie ich mit Konflikten umgehe.
- Und schließlich – und darauf kommt es mir hier an – ist von meiner Haltung geprägt, wie ich als Entscheider Rahmenbedingungen, Strukturen und Prozesse verändere, innerhalb derer meine Kolleginnen und Kollegen Wert stiften sollen. Und genau hier trifft Haltung auf Systemtheorie: Ich kann nur nachhaltig gestalten und leben, was ich aus meiner von Erfahrungen und Erlebnissen geprägten Haltung für „vernünftig“ halte und was sich mir als vorstellbare Realität zeigt. Ansonsten laufe ich unter Umständen nur einer Mode wie Agilität und Selbstorganisation nach. Vielleicht schaffe ich sogar entsprechende Rahmenbedingungen – sende aber im Alltag hierarchische Signale, handle machtsichernd und denke in kausalen Sachzwängen. So wird Veränderung nicht nachhaltig gelingen, sondern alte Muster werden stabilisiert, Zynismen befördert und effektive Zusammenarbeit erschwert.
DIE HALTUNG DER ENTSCHEIDER BESTIMMT DIE VERHÄLTNISSE
Aus organisationssoziologischer Sicht trifft der Satz, das Spiel spielt die Spieler voll ins Schwarze. Menschen in Organisationen verhalten sich rational. Sie passen ihr Verhalten an die formellen und informellen Spielregeln an und erhalten damit die Stabilität des organisationalen Systems. Besteht jedoch die Notwendigkeit einer grundlegenden Veränderung, so ist es zielführend die Spielregeln – also die Strukturen, Prozesse, Anreizsysteme – auf den Prüfstand zu stellen und zu verändern. Dadurch werden effektiv Anreize gesetzt, sich entsprechend der veränderten Spielregeln anders zu verhalten.
Will ich zum Beispiel mehr crossfunktionale Zusammenarbeit über Bereichsgrenzen hinweg, reicht es nicht ein verändertes Mindset einzufordern oder an den Kooperationswillen zu appellieren, wenn weiterhin die Bereiche mit sich widersprechenden Zielen incentiviert werden oder wenn die Mitarbeitenden nur an ihrer produktiven Auslastung gemessen werden. Die expliziten wie unausgesprochenen Spielregeln schaffen die Verhältnisse, die unser Verhalten prägen. Also gilt es diese entsprechend weiterzuentwickeln.
Nun gibt es natürlich in jeder Organisation Spielregeln, die niemand explizit geschaffen hat wie beispielsweise Formalität, Hilfsbereitschaft, Misstrauen, Wettbewerbsorientierung, etc. Diese sind nicht unmittelbar gestaltbar. Spielregeln aber wie Anreizsysteme, Berichtslinien, KPIs sind gestaltbar. Dafür braucht es jedoch formale Macht. Und hier kommt jetzt das Haltungsthema ins Spiel: Entscheidend ist, dass diejenigen die die Macht haben Spielregeln zu verändern, dies in großer Bewusstheit tun. Möglichst mit einem Verständnis der Systemtheorie. Vor allem aber mit einer Haltung des Lernens, der Offenheit und der Neugier, denn sie arbeiten am offenen Herz eines komplexen sozialen Systems, das keiner monokausalen Logik folgt. Darüber hinaus stehen gerade Entscheider und Entscheiderinnen als wesentliche Träger von Kommunikation und Sinngebung unter besonderer Beobachtung. Nur wenn sie glaubwürdig entlang der neuen Spielregeln auch im Sinne des gewünschten anderen Verhaltens handeln, ist es für die Mitarbeitenden systemintelligent, diesen neu geschaffenen Erwartungen zu folgen.
Daher ist die Arbeit mit den (Top) Entscheidern so bedeutsam. Hier ist Bewusstsein dafür zu schaffen, dass organisationale Transformation allzu oft auch persönliche Transformation bedeutet. Dafür braucht es mehr als Wissensvermittlung und Sparring, sondern geschützte Erlebensräume für die eigene Ich-Entwicklung.4
Moderne Systemtheorie und die Theorie der Ich-Entwicklung sind also nicht – wie oftmals insinuiert – eine Frage des „Entweder-oder“ sondern des „Sowohl-als-auch“. Beides sollte Hand in Hand gehen als organisationaler und persönlicher Lernprozess. Dafür braucht es aber Mut und Entschiedenheit, Zukunft aktiv gestalten zu wollen und nicht – bewusst und unbewusst – am Bestehenden festzuhalten.
Und was bedeutet das jetzt konkret für mutige Zukunftsgestaltung:
- Blinde Flecken ausleuchten: Bei Veränderungen auf beides achten – auf dysfunktionale Strukturen, Prozesse, Entscheidungsprämissen genauso wie auf die Art der Wirklichkeitsbewältigung und Gestaltungsfähigkeit der Entscheider und Entscheiderinnen, die die Spielregeln bestimmen
- Bei organisationaler Transformation die eigene Transformation forcieren: Bewusst Reflexions- und Erlebensräume vor allem für Entscheider gestalten, die die Rahmenbedingungen setzen. Ihre Entwicklung zu bewussten Gestaltern des System bedeutet in der Regel zuallererst sich selbst die Entwicklung des eigenen Ichs zu erlauben
- Raum für Lernen etablieren: Organisationale Entwicklung braucht ebenso Zeit wie Haltungsentwicklung. Beides geht nicht ohne Raum für neue Erfahrungen und positives Erleben außerhalb der Komfortzone. Achtsam gestaltet, kann sich aber beides – Entwicklung der Organisation und Entwicklung des Ichs – wunderbar gegenseitig verstärken
Fußnoten
1 Entscheidungsprämissen nach Niklas Luhman legen den Spielraum für Entscheidungen fest. Sie wirken aber nicht kausal, sondern begrenzen den Handlungsspielraum und ermöglichen auf diese Weise den effizienten Umgang mit Komplexität. Damit werden in Organisationen Entscheidungskosten und -risiken gesenkt.
2 Grundlage dafür ist der Humanocracy-Ansatz von Gary Hamel, der den Fokus konsequent auf den Mensch und den Abbau starrer bürokratischer Strukturen setzt.
3 Ich nutze bewusst den von Martin Permantier verwendeten Begriff der Haltung, um das Wertende der zugrunde liegenden Theorie der Ich-Entwicklung von Jane Lovinger und Susanne Cook-Greuter, die die menschliche Entwicklung als Stufenmodell darstellen, zu vermeiden. Je höher die Stufe der Ich-Entwicklung, desto größer ist demnach die Fähigkeit des Individuums, Komplexität zu bewältigen und flexible, differenzierte Reaktionen auf Veränderungen zu entwickeln.
4 Moderne Führungskräfteentwicklung sollte daher beide Facetten – moderne Systemtheorie und Erlebnisraum für Entwicklung der eigenen Haltung – berücksichtigen wie zum Beispiel die Systemgestalterausbildung von VORSPRUNG@work oder Essential Leadership des Transformationsgefährten Alex Häussermann