– von der Eigenschaft, Handlungs- und Wandlungsfähigkeit zu Transformationsfähigkeit zu verbinden
Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“[1] ist eines der 5 Bücher, die mit mir auf eine einsame Insel kommen und gilt (vielleicht neben Ulysses) als eines der meist-ungelesenen Bücher überhaupt. Ein vielschichtiges Werk, das die Komplexität menschlicher Existenz und die Spannungen zwischen individuellen Ambitionen und gesellschaftlichen Strukturen beleuchtet. In diesem Buch steckt so unendlich viel,- und ganz nebenbei auch der Aufruf zur Beidhändigkeit im Sinne der modernen Transformationsfähigkeit.Von Change zu Transformation
Ein Aspekt des Buches hat mich jedoch von Beginn an besonders fasziniert und tut es noch: Die Große Vaterländische Aktion. In einer visionären Parallelaktion soll das Jubiläum der Thronbesteigung in nie dagewesener Art und Weise gefeiert werden. Man fordert das Typische und das Spektakuläre gleichzeitig ohne konkrete Ideen, was das eigentlich bedeuten könnte (hier werden die ersten LeserInnen bereits an ihre eigenen Organisationen und die Transformationsvisionen des Vorstands denken). Es wird Wirklichkeitssinn in Bezug zur gegenwärtigen Realität eingefordert, um die Machbarkeit und Relevanz der Parallelaktion im Blick zu behalten, anstatt sich in Träumen und Visionen zu verlieren. Bei diesem Wirklichkeitssinn geht es um die bestehenden sozialen, politischen und emotionalen Rahmenbedingungen. Oder genauer: um die Wahrnehmung und Interpretation der Rahmenbedingungen und damit unterschiedlicher Wirklichkeitssinne aus denen heraus die Protagonisten handeln und entscheiden. Diese Sichtweise ist durch das Bedürfnis gekennzeichnet, die Welt so zu ordnen, dass sie verständlich und handhabbar wird. Und doch braucht es eben auch den „Möglichkeitssinn“, um nicht im Mittelmaß stecken zu bleiben, um das Hier&Jetzt der Normalität zu überwinden und etwas Besonderes zu erschaffen. Erst dieser Möglichkeitssinn eröffnet Raum für Visionen und unkonventionelle Denkansätze, die über die Wahrnehmung und Interpretation der gegenwärtigen Realität hinausgehen. Der Möglichkeitssinn erlaubt es den Charakteren, sich von den Fesseln ihrer Umwelt zu befreien, Alternativen zu entwickeln und eigene Wege zu beschreiten. In der Vision der Parallelaktion wird deutlich, dass Musils Figuren nicht nur Produkte ihrer Zeit sind, sondern auch aktive Gestalter ihrer eigenen Zukunft sein wollen. Genau wie in einem größeren Transformationsprozess soll sich diese Zukunft nicht im „weg von“ eines klassischen Change-Prozesses, sondern im „hin zu“ einer kraftvollen Vision zeigen. Das Neue an Musils Blick ist den bewährten Wirklichkeits- und den innovativen Möglichkeitssinn nebeneinander zu stellen. Die Realität, das Gewohnte, Erprobte als Bodenhaftung nicht aus dem Blick zu verlieren und doch gleichzeitig auch visionär und konkret in die Zukunft schauen zu können.Beidhändigkeit statt links oder rechts
Transformationsfähigkeit als Kombination von Handlungsfähigkeit (im Sinne von Wirklichkeitssinn) und Wandlungsfähigkeit (im Sinne von Möglichkeitssinn) ist also das Zulassen eines UND anstelle eines ODERS. Als Schlagwort der Leadership-Theorie dazu hören wir in den letzten Jahren immer häufiger das Konzept der Ambidextrie. Diese „Beidhändigkeit“ beschreibt die Fähigkeit von Organisationen, sowohl in bestehenden Geschäftsmodellen effizient Leistung zu erbringen (Exploitation) als auch dynamisch neue Geschäftsmöglichkeiten zu erkunden und mutig zu entwickeln (Exploration). Diese duale Strategie ist für die langfristige Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen in der zunehmenden Komplexität und Dynamik unserer professionellen Ökosysteme immer entscheidender. Organisationen, die in der Lage sind, diesen Spagat zu meistern, zeichnen sich durch hohe Resilienz aus: Sie können Herausforderungen wie Marktschwankungen, technologische Veränderungen oder interne Krisen besser bewältigen und damit relative Stabilität in Unsicherheit schaffen.Eine gesellschaftliche Einordnung
Bei Musil wird diese Beidhändigkeit mit Blick auf die Gesellschaft am Beispiel der Parallelaktion gefordert. Ein Blick auf unsere heutige Gesellschaft zeigt aber, wie aktuell diese Forderung nach wie vor ist. Denn genau wie in Organisationen unterliegen auch soziale Systeme permanenter Transformation. Die Welt verändert sich und wir können entweder proaktiv gestalten oder uns reaktiv anpassen. Wieso nur fällt uns das allen gemeinsam so schwer? Wo und wie könnten wir das lernen? Eine gute Schule und gute Lehrer entwickeln neben ihrem inhaltlichen Lehrauftrag ihre SchülerInnen auch zu verantwortungsbewussten Mitgliedern unserer sozialen Gemeinschaft, die die zugrundeliegenden Werte und Normen des Systems akzeptieren und respektieren. Und gleichzeitig sollen die Kinder auch in ihrer Autonomie gefördert und zu kritischer Selbstbestimmtheit ermutigt werden, um genau diese zugrundeliegenden Werte und Normen konsequent zu hinterfragen und damit sozialpolitische Verantwortung zur gesellschaftlichen Weiterentwicklung zu übernehmen. Für LehrerInnen gilt also das klassische „Fördern und Fordern“ in einem besonderen Maß. Schule und Gesellschaft braucht Ambidextrie als politische Transformationsfähigkeit, um gemeinsam verantwortungsvoll die Zukunft zu gestalten.Und dann, quo vadis?
Damit Transformationsfähigkeit in Gesellschaften und Organisationen im Spannungsfeld zwischen Leistungsfähigkeit und Innovationskraft dauerhaft als Zusammenspiel von Handlungs- und Wandlungsfähigkeit etabliert werden kann, bedarf es noch einer dritten Fähigkeit, nämlich der Beziehungsfähigkeit. Diese erlaubt uns, jenseits von Gewohnheiten und Besitzansprüchen in offene, ehrliche und transparente Besprechbarkeit zu kommen, um konstruktiv darüber zu streiten, ob das Bewährte und Gewohnte noch sinnhaft und wirksam ist, oder ob es etwas Neuem bedarf und wie dieses neu zu entstehende Miteinander nachhaltig gestaltet und umgesetzt werden kann. Denn wie es in dem oft zitierten sogenannten Gelassenheitsgebet heißt: „Gott gebe mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die sich ändern lassen, und die Weisheit, das eine vom andern zu unterscheiden.“2 Um das gemeinsam zu tun, müssen wir eben miteinander in guter Beziehung mit einer starken Kultur stehen. Aber das ist wieder ein anderes Buch….Fußnoten
- Robert Musil, „Der Mann ohne Eigenschaften“, Anaconda Verlag, 2017
- Friedrich Oetinger (1702-82), dt. luth. Theologe