
Jutta Fuchs

Daniel Osterwalder
Wie alles begann
Bevor frühe Menschen Texte geschrieben haben, um ihre Gedanken wiederzugeben oder um ein Verständnis von Komplexität zu entwickeln, gaben sie ihren Gedanken Form mit Hilfe von Zeichen, bildlichen Verallgemeinerungen, Hieroglyphen oder Keilschriften. Einfache Formen von Bildern dienten ihnen dabei als Versuch der Abstraktion und auch als Möglichkeit, die schiere Komplexität zu greifen. Ganz ohne Soziologievorlesung begriffen sie das Luhmannsche Diktum, dass man Komplexität zuerst verstehen muss, bevor man sie vereinfacht.
Die Vorgänger dieser frühen Menschen malten mit Kohle, Rötel und anderen Materialien wunderbare Gestalten an Höhlenwände. Tanz, Rituale, eine Art Kompendium der damaligen Tierwelt und Szenen wilder Jagd wurden sichtbar und auch greifbar und wechselten mit frühen Aktmalereien und Porträts. Keine Selbstporträts, denn so etwas wie das Selbst schien damals keinen Raum gesucht zu haben. Und noch heute, 15000 Jahre später stehen wir staunend vor diesen Bildwelten und können erahnen, wie – ganz ohne Zeichenunterricht und Schule – etwas wesentlich Menschliches sich Bahn brach.
Wie Kinder zeichnen
Vor einigen Jahren schaute ich zwei Kindern zu, sehr kleinen Kindern, die weder zur Schule gingen noch in einer institutionellen Form bespaßt wurden. Sie griffen sich Malkreiden, dicke Ölkreiden, Kohle und begannen das auf dem Boden liegende Papier zu bemalen. Aus einfachen Kringeln, Kreisen, Dreiecken entstanden die hier angeführten Bilder von Tieren und von Dingen. Und spannend: Beide brabbelten während des Zeichnens vor sich hin, verwendeten teilweise bekannte Wörter oder setzten Silben auf eine Art und Weise zusammen, die nur für sie einen Sinn ergaben. Synchron zum Erzählen und zur Kommunikation entstanden also Bilder.
Das wiederum ist ein interessanter Gedanke, wenn ich mir vorstelle, dass die Höhlenmaler:innen vor 15000 Jahren ebenfalls gesprochen und erzählt haben, während sie synchron die wilde Jagd auf die Wand brachten. Dass sie als eine Art Life-Recorder und im sprachlichen und bildlichen Austausch eine Ahnung davon erhielten, was es denn auf sich hat mit diesem in der Welt Sein.
Auch das Kind: Bevor es einen Text schreibt, vielleicht umständlich und abstrakt, kann es mit ganz einfachen Formen die Welt be-greifen. Greifen, in die Hand nehmen, ins Bild setzen. Und all das ohne Unterricht, ohne Lektionen, Anleitung, ohne Agenda und ohne Curriculum. Das Spielerische, das Leichte, der Mut, den Stift zu greifen und loszulegen, die Aktion und die Beteiligung – die sind da alle gegeben und noch nicht verschult. Und damit ist eigentlich alles vorhanden, um zu zeichnen und zu visualisieren und um, wie von alters her, Komplexität zu entdecken, Formen der Darstellung zu finden und um auf diesem Weg darüber zu kommunizieren.
Visualisieren heute
Und hier setzen wir beim Visualisieren an. Wir arbeiten mit einfachen graphischen Elementen wie Strich, Kreis, Quadrat oder Dreieck und spielen damit. Dieses visuelle Alphabet ist bewusst einfach gehalten, weil wir mit Hilfe dieser einfachen Elemente jedem und jeder die Angst vor dem Versagen nehmen können. Zudem schaffen wir eine Bildwelt in 2D, nutzen wenige Farben, damit eine Visualisierung bunt wird und setzen mit Hilfe eines dicken grauen Stiftes einen Kontrapunkt zum präzisen Schwarz. Ein Kontrapunkt, der sowohl den Schatten setzt als auch einen Hauch von 3D auf das Papier zaubert.
Damit versuchen wir auch, an der Bild- und Formenwelt anzudocken, die uns eigentlich seit früher Kindheit und aus unserer Urzeit bekannt ist. Nämlich das Zusammensetzen einfacher graphischer Elemente zu einfachen Bildern, um auf diese Weise miteinander in einen sinnvollen Austausch zu gehen.
So wie ich es in Unternehmen in Deutschland und in der Schweiz wahrnehme, sehen wir an vielen Orten erste Schritte beim Visualisieren und bei der Gestaltung von Flipcharts, bei Prozessabläufen und während Workshops. Häufig greifen die Teilnehmenden rascher zu Stift und Farbe, um etwas zu skizzieren und um einer Idee oder einem Gedankengang Gestalt zu geben. Gerade dies – das gemeinsame Sketchnoting oder auch am großen Tisch sitzend miteinander zeichnend und skizzierend bietet extrem viel Potential im Sinne hochwertiger Verständigung, verbesserter Kommunikation und erhöhtem Spaßfaktor. Gut, letzteres hören viele noch nicht wirklich gern, aber in Unternehmen, in denen während der Zusammenarbeit viel gelacht wird, besteht auch die Chance, dass viel intensiver nachgedacht und ein Thema vielfältiger untersucht wird.
Learnings
- Visualisieren ist eine uralte Sprache, die weltweit und überall funktioniert.
- Es ist eine Sprache, die aus einfachen und wenigen Mitteln besteht, mit deren Hilfe wir die ganze Komplexität fassen können.
- Jede und jeder kann das innerhalb weniger Tage wieder erlernen. Da wir das Visualisieren als Kind schon verwendet haben, fällt es uns leicht, diese Bildwelt wieder zu aktivieren.
Daniel Osterwalder, Facilitation | Naturarbeit | Graphic Recording